Liebe Maispracherinnen und Maispracher, liebe Kinder, Liebe Gäste 

Ich freue mich sehr, den heutigen 1. August gemeinsam mit euch feiern zu können. Wieder Menschen auf einem Platz zu treffen, gemeinsam anstossen zu können das ist ein besonderes Gefühl und dies macht froh. Ich komme gerade mit meiner Tochter von der historischen Feier zum 50 Jahre Frauen*stimmrecht auf dem Rütli. Ein besonderer Moment, mit Frauenverbänden, Frauenorganisationen und Frauengruppen dieses Jubiläum zu feiern. Und dann an diesem Ort, dem Rütli, voll von Geschichte und Mythos. Mich gab es noch nicht 1971, dem Jahr der Einführung des Frauenstimmrechts. Aber ich konnte mit vielen Menschen sprechen, die sich sehr gut an diesen denkwürdigen Abstimmungssonntag erinnern. Auch der heute dorfälteste Oltinger, Hans Dähler, erinnert sich gut: er war damals sogar Gemeinderat bevor er Gemeindepräsident wurde. Es sei ein ganz besonderer Moment gewesen, der auch für das Zusammenleben im Dorf wichtig war. Kurz darauf gab es die erste Gemeindeschreiberin. Bis es in Oltingen oder in Maisprach die erste Frau im Gemeinderat gab, hat es noch eine Weile gedauert…

Heute, ein halbes Jahrhundert später, sind wir bei der Gleichstellung sicher weiter als an dem damaligen Abstimmungssonntag. Im Maispracher Gemeinderat, im Baselbieter Landrat und sogar im Nationalrat sind fast 40% Frauen. Die Revolution von einst wird langsam, langsam aber sicher eine Normalität. Die Geschichte der Demokratie ist aber noch lange nicht zu Ende. In diesen Tagen diskutieren wir über das Stimm- und Wahlrecht von Jugendlichen und von Menschen, die zwar schon lange hier leben, aber keinen CH-Pass haben.

Nicht ganz überraschend sind die damaligen Argumente der Gegner des Frauenstimmrechts und die heutigen Bedenken gegen das Jugend- oder gegen das Ausländerstimmrecht sehr ähnlich. Es fehle an politischer Klugheit und mentaler Reife, hiess es damals und heisst es auch heute noch. Ich bin mir jedoch sicher, dass es kein halbes Jahrhundert mehr brauchen wird. Die Vielfalt der Gesellschaft soll sich in der Politik und ihren Institutionen niederschlagen. 

 

Die Vielfalt und Diversität ist das eigentliche Merkmal unseres Landes. Sie zeigt sich beispielsweise auf einer Fahrt mit Schifff, Zug und Bus vom Rütli nach Maisprach. Ich halte eine Erst-August-Rede, deshalb betone ich die Einheit in der Vielfalt. Die vier Landessprachen. Die Toleranz. Der Wille, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung die Vielheit zu schätzen. Und trotzdem eine Einheit sein zu wollen. Die Innerschweizer Kulisse mit der erhabenen Natur und den gottesfürchtigen Eidgenossen, die ihre Unabhängigkeit zäh verteidigen – der Sog dieser Schweizer Identitätserzählungen ist am 1. August besonders stark und durchweht heute sicher die eine oder andere Festrede. Die Fahrt durch die Innerschweiz zeigt aber auch, dass dieses Schweiz-Bild etwas Kitschiges hat und sich gerade in Luzern hervorragend an ausländische Touristen vermarkten lässt. Hier scheint unser Land vor allem aus Bergen und Kühen zu bestehen. Da wird gerne ausgeblendet, dass bereits 3/4 der Menschen in der Schweiz in Städten und Agglomerationen leben. Bei der Vorbeifahrt an der Axenstrasse kann ich dann wählen: Erinnert mich diese Strasse daran, dass die Natur für den Menschen schon immer etwas Bedrohliches hatte? Oder werde ich daran erinnert, dass wir in den kommenden Jahren mit zunehmenden Wetterextremen mit entsprechend grossen Unwetterschäden werden rechnen müssen und diese Strasse wie in den vergangenen Tagen und Wochen immer wieder gesperrt werden muss? Oder wie es die amerikanische Philosophin Judith Butler diese Woche in einem Interview in der Basler Zeitung betonte: Katastrophen wie die Unwetterereignisse zerstören die vielleicht trügerische Sicherheit, dass die Schweiz von der Klimakrise und anderen Ereignissen verschont bleibt.

Die jüngsten Unwetter in Westeuropa aber auch die Corona-Krise haben zu einem neuen Gefühl der Verwundbarkeit geführt. Wir wurden mit Situationen konfrontiert, die für Viele von uns völlig neu waren. Vielfalt hinnehmen, Meinungsunterschiede annehmen und Toleranz sind im Pandemiejahr besonders gefordert. Und es war für viele auch eine Herausforderung zu sehen, wie im engen Freundeskreis oder auch in der Familie plötzlich Meinungen aufeinanderprallten, die zu Konflikten und teilweise sogar zu Beziehungsabbrüchen führten. Empathie und einander zuhören – diese auch in der Politik so wichtigen Eigenschaften werden wir weiter pflegen müssen. Es ist nicht selbstverständlich, dass das Miteinander einfach funktioniert. Toleranz und Offenheit für die Vielfalt müssen immer und immer wieder gestärkt werden. Dazu gehört auch, dass wir nicht die Differenzen betonen oder sie herbeireden. Dass wir die Spaltungen der Gesellschaft nicht bewirtschaften, sondern dass wir das Verbindende und das Gemeinsame hervorheben und betonen. In einer Dorfgemeinschaft gibt es den gemeinsamen Alltag, und Ereignisse, bei welchen wir auf Andere angewiesen sind. Vielleicht habt ihr das auch bei den heftigen Gewittern erlebt, welche vor einigen Wochen in vielen Teilen der Schweiz und im nahen Ausland gewütet haben. Naturereignisse können massive Schäden verursachen, Ernten, Dächer, ja ganze Häuser verwüsten. Und auch mit dem besten technischen Fortschritt und den besten Wettervorhersagen lassen sich solche Ereignisse nicht verhindern. Bei solchen Katastrophen, aber auch bei anderen Notsituationen im Alltag zählt die Gemeinschaft und das konkrete Anpacken. Auch in guten Zeiten ist eine funktionierende Dorfgemeinschaft etwas Wichtiges und Schönes.

 

Etwas, das Maisprach auszeichnet ist sein aktives Vereinsleben. Sei es sportlich, musikalisch, im Naturschutz oder natürlich im Bereich des Weins. Viele engagieren sich freiwillig und ehrenamtlich für das Gemeinwohl. Dass solches Engagement und gemeinsames Anpacken nicht nur das aktuelle Leben verbessert, sondern auch längerfristig für künftige Generationen etwas Positives bewirkt, zeigt sich beispielsweise am starken Engagement des Vogelschutz- und Verschönerungsverein Maisprach (VVM). In einer Aktion, welche den verloren gegangenen Lebensraum für Vögel wie den Steinkauz – Vogel des Jahres 2021 – oder den Gartenrotschwanz zurückgewinnen will, pflanzten mit Unterstützung des Turnvereins und der Landeigentümer 400 Heckensträucher und 42 Obst- und Feldbäume. Wie den Medien zu entnehmen war, stehen die Chancen gut, dass sich der eine oder andere Vogel in Zukunft wieder vermehrt im Oberbaselbiet blicken lässt. Oder die heutige Eröffnung des neuen Veranstaltungsraum im Feuerwehrmagazin. Grossartig, weil historische Zeitzeugnisse zunehmend schwinden und es sehr kostbar ist, wenn Historisches in dieser Form der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden kann.

 

Natürlich wird an einem solchen Anlass wie heute, nachdem man sich nach langer Zeit mal wieder gesehen hat auch politisch diskutiert. Wir alle wissen, dass die Probleme gross sind – Klima, Natur, die Schweiz in Europa, die Bewahrung unseres Wohlstands angesichts zunehmender Ungleichheit, die wachsenden Spannungen zwischen den Grossmächten. Und nicht nur in Bern, auch am Stammtisch im Ochsen oder im Chlöschterli. Es wäre alles so einfach, es wäre alles so richtig, wenn jede und jeder von uns ein kleiner Diktator wäre, eine kleine absolute Monarchin, die den andern diese eine, richtige, wahre Lösung befehlen könnte! Mit dieser Haltung erreicht man jedoch nichts – weder im Ochsen Oltingen, noch am Familientisch, noch im Gemeinderat. Es ist erst die Bereitschaft, für Argumente offen zu sein, erst die Fähigkeit, auch andere Perspektiven einzunehmen führt dazu, dass wir erfolgreich zusammenleben. Mit einem etwas altmodischen Wort: erst der Ausgleich, erst der Kompromiss bringt uns vorwärts, hält uns zusammen. Und der Gedanke der Bundesverfassung, dass sich “die Stärke des Volkes am Wohl der Schwachen misst”. 

 

Gemeinsam mit meiner Familie lebte ich einige Zeit in Bolivien. Und mit einem Blick aus der Ferne wurde ich umso dankbarer für viele Errungenschaften in unserem Land. Das Pandemiejahr hat uns klar aufgezeigt, was vielen Menschen zuvor vielleicht nicht immer so bewusst war: Wie wichtig es ist, der eigenen Landschaft und dem Lebensraum, in dem wir wohnen und arbeiten, Sorge zu tragen.

Und nach Zeiten des Social-Distancing ist auch das Sorgetragen zu unseren Nächsten, zu unseren Nachbarn, zu unseren Vereinskolleginnen, zu unseren täglichen Weggefährten im Postauto wichtig.

Gerade die Pandemie hat gezeigt, dass wir als Menschen auf eine Art alle miteinander verbunden und abhängig sind und neue Formen von Fürsorge entstanden sind. Sei es im Dorf, in der Region, in der Schweiz oder sogar als globale Gemeinschaft betrachtet, nur gemeinsam lösen wir die Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft.

Geniessen wir das Zusammensein heute umso mehr und freuen uns, dass eine Feier überhaupt möglich gemacht wurde. In diesem Sinne möchte ich allen, die zu diesem schönen Fest beigetragen Danke sagen. Ein besonderer Dank dem Männerchor, der VVM und dem Gemeinderat für die Organisation und die Einladung.

Ich wünsche euch allen einen frohen 1. August in geselliger Runde und für die 2. Jahreshälfte 2021 gute Gesundheit und viele Möglichkeiten des Zusammenseins –

VIVA, Gesundheit!

Diese Rede wurde an der 1. August Feier 2021 in Maisprach auf Mundart gehalten.