Die Zeit 06/24 


Blickt Peter Studer aus seinem Küchenfenster, dann sieht er Häuser und Bäume und dahinter einen der bekanntesten Autobahnabschnitte der Schweiz: die A1 zwischen Luterbach und Härkingen im Solothurner Gäu. Die Straße ist notorisch überlastet. »Oft stehen die Autos«, sagt Studer, »dann haben wir den Verkehr im Dorf.«

Die Bauernfamilie wohnt seit Generationen an der Dorfstraße in Niederbuchsiten. »Wir haben gute Böden. Sie sind tiefgründig und halten den feuchten Frühling, aber auch den trockenen Sommer gut aus«, sagt der 55-Jährige beim Rundgang über den Hof. Im Stall kauen 30 Kühe das gegärte Gras, das auf den Feldern gewachsen ist, die rund ums Dorf verstreut liegen. Studers Großvater konnte sein Land noch direkt über die Feldwege erreichen. Der Enkel muss einen dreimal so langen Umweg über eine Autobahnbrücke fahren. Die A 1 hat das Land der Studers geteilt.

Bald fahren in Niederbuchsiten die Bagger, die Walzen, die Asphaltmaschinen auf. Die Autobahn wird auf sechs Spuren ausgebaut, und Peter Studer ist einer von 124 Landbesitzern, die ein Stück Land hergeben müssen. Die 22 Kilometer zwischen Luterbach und Härkingen gehören zu den Stau-Hotspots der Schweiz. Elf Minuten dauert die Fahrt, im Stau auch mal eine Stunde oder mehr. Ende der 1980erJahre zählte das Bundesamt für Straßen hier durchschnittlich 50.000 Fahrzeuge pro Tag. 2022 waren es 87.000, im Jahr 2030 könnten es 110.000 sein. Mit den beiden zusätzlichen Fahrspuren will der Bund den AutobahnEngpass im Mittelland beheben. In diesem Frühjahr starten die Vorbereitungsarbeiten, ab Mai 2025 wird gebaut, im Jahr 2032 sollen die zwei Spuren, eine pro Fahrtrichtung, fertig sein. 886 Millionen Franken kostet der Bau.

Mehr Beton und mehr Asphalt gleich weniger Stau. So lautet seit Jahrzehnten die Devise in der Schweizer Verkehrspolitik. Egal welche Partei den Verkehrsminister stellt. Die sechste Spur bei Härkingen hat die Mitte-Bundesrätin Doris Leuthard lanciert, im vergangenen Herbst war es SVP-Verkehrsminister Albert Rösti, der den Bundesrat und das Parlament davon überzeugen konnte, in den nächsten Jahren zusätzlich 5,3 Milliarden Franken in weitere Ausbauprojekte zu investieren.

Zwischen Bern-Wankdorf und Schönbühl soll der erste achtspurige Autobahnabschnitt des Landes entstehen; zusätzliche Spuren sind auch zwischen Schönbühl und Kirchberg und am Genfersee zwischen Le Vengeron GE und Nyon VD geplant; der Rosenbergtunnel in St. Gallen soll eine dritte, der Fäsenstaubtunnel in Schaffhausen eine zweite Röhre erhalten, und die Region Basel soll mit einem neuen Rheintunnel vom Durchgangsverkehr entlastet werden. »Schädlich, nutzlos und teuer« seien die sechs Projekte, sagt die grüne Nationalrätin Florence Brenzikofer. Sie hat in den vergangenen Wochen zusammen mit grünen und linken Politikern, lokalen Widerstandsgruppierungen und Umweltverbänden 100.000 Unterschriften gegen den »Autobahn-Bauwahn« gesammelt. Vor drei Wochen haben die 29 Organisationen unter der Federführung des Verkehrsclubs der Schweiz (VCS) ihr Referendum eingereicht. Spätestens im Herbst dürfte das Schweizer Stimmvolk über den Autobahnausbau befinden. Brenzikofer bringt nicht nur das bekannte Argument »Wer Straßen sät, erntet Verkehr« und weist auf den Verlust von wertvollem Kulturland für die Landwirtschaft hin. Sie argumentiert auch mit dem neuen Klimaschutzgesetz, das im vergangenen Juni in einer Volksabstimmung angenommen wurde. Tatsächlich verlangt Artikel zwölf, dass »Vorschriften anderer Bundeserlasse (…), insbesondere in den Bereichen CO₂ Umwelt Energie Raumplanung Strassen- und Luftverkehr sowie Mineralölbesteuerung so ausgestaltet und angewendet werden sollen, dass sie zur Erreichung der Ziele dieses Gesetzes beitragen« Brenzikofer argumentiert, dass der Autobahnausbau von den beschlossenen Verlagerungs- und Klimazielen wegführe. Nicht nur machten neue Straßen den fossil und elektrisch betriebenen Individualverkehr attraktiver, auch deren Bau belaste das Klima und zerstöre Lebensräume. »Wie alles, was uns vom Ziel wegführt, die Schweiz bis 2050 klimaneutral zu machen, dürfen die Ausbauten nicht realisiert werden«, sagt die Nationalrätin. Jeden Morgen um fünf Uhr starten die Fahrerinnen und Fahrer des Logistikunternehmens Planzer ihre Routen. »Sie wissen haargenau, was sie erwartet«, sagt ihr CEO Nils Planzer am Telefon. Also wann und wo sie wie lange im Stau stehen werden. »Die schlimmsten Engpässe haben wir auf der A 1 und in den Agglomerationen von Zürich, Genf und Basel.« Darum sei er »froh und dankbar«, sagt Planzer, dass das Parlament jene Autobahnabschnitte ausbauen will, wo sich der Verkehr besonders häufig staut. »Ein Land, das wächst und sich entwickelt, kann nicht einfach sagen: Jetzt ist fertig gebaut, jetzt wird nur noch das Bestehende unterhalten.« Dass es kein Zufall ist, sondern politisch gewollt, dass die Projekte gleichmäßig über das ganze Land verteilt sind und jenes in der Romandie im Eiltempo und ohne Vernehmlassung ins Paket aufgenommen wurde, tut für ihn nichts zur Sache. Im Gegenteil: »Es zeigt die vorbildliche Verkehrspolitik der Schweiz: Man baut so viel, wie man finanzieren und unterhalten kann, und nimmt Rücksicht auf die föderalistische Struktur unseres Landes.« Ebenso vorbildlich sei, dass man eigene Finanzierungstöpfe für die Schiene und für die Straße habe. Ihm als Unternehmer sei es deshalb möglich, immer mehr Güter auf die Schiene zu bringen, inzwischen sei es mehr als die Hälfte. »Aber nicht alles kann immer und überall mit der Bahn transportiert werden. Auf den letzten Kilometern braucht es immer die Straße«, sagt Nils Planzer. Er sagt aber auch: »Wir müssen nicht sinnlos bauen, damit alle rund um die Uhr auf jeder Straße freie Fahrt haben.« Wie er das Stauproblem nachhaltig lösen würde? Mit Geld. »Wenn ich um sieben Uhr morgens in die Stadt Zürich will, muss das dreimal so teuer sein, als wenn ich um elf Uhr reinfahre.« Als Mitglied der nationalrätlichen Verkehrskommission konnte Florence Brenzikofer den »Autobahnwahn« nicht bremsen. 

Ganzer Artikel lesen